Reto Hänny zum 80-jährigen Jubiläum der Visarte Graubünden

Eine Abbildung, hochformatig, zeigt Nana, wie sie im Maiensäss vor dem Stall steht. Um vier Uhr in der Früh – es versprach ein schöner Tag zu werden, föhnig zwar, aber das hiess, dass dem Schnee auch in den Hochlagen endlich der Garaus gemacht werden würde – wird sie aufgestanden sein, um käsen zu gehen; nach dem Anfeuern unter dem grossen Kessi mit der abgerahmten Milch vom Vortag wird sie die Kühe gemolken haben, um danach in den Tagesanbruch hinein das Vieh auf die Weide zu treiben und den Stall zu misten. Am späten Vormittag ist sie mit ihrer Arbeit im Maiensäss fertig, und ehe es ins Dorf zurückgeht, der Familie – die Mannsbilder stehen an der Grenze – das Mittagessen zu bereiten, findet sie Zeit, kurz zu verschnaufen, etwas verlegen sich dem Fotografen präsentierend, eine weisse oder hellblaue Arbeitsschürze (die Schwarzweissfotografie lässt mir bei der Farbzu­ordnung Spielraum) über den bodenlangen dunklen Rock aus grobem Tuch gebunden, in der einen Hand eine Gebse – der Fotograf, der sich in der Hütte zuvor nach malerischen Requisiten umgesehen hatte, wird sie ihr in die Hand gedrückt haben, damit sie sich an etwas festhalten kann –, am andern Arm den hölzernen Melkeimer, offenbar leer, so wie sie ihn trägt, und im Rücken, neben der angeschnittenen Hüttenecke, vor der sich ein Zipfel der zum Trocknen aufgespannten Kästücher im Wind bauscht, die sonnengeschwärzte Stallwand, die am rechten Bildrand schmal einen Ausblick ins Land, auf die Berge freigibt.

Doch weder dieser fotografische Augenblick, Mutter-Erinnerung aus der Zeit vor meiner Zeit, noch jener Kunstdruck aus dem Beobachter, der zu Hause an der rauchschwarzen Wand im Stiegenhaus hing (wie Nana, hier als Schafhirtin, aufrecht, den Stecken in der Hand, ohne sich drauf abzustützen – nichts mehr von der Scheu auf der Fotografie ist der kräftigen jungen Frau anzumerken –, mit der Rechten die Krempe des Strohhuts hält, der ihr die vor der flirrenden Helle zugekniffenen Augen abschattet, deutet Wind an, sichtbarer noch an den zwei Dohlen, die sich im Hintergrund, über den Schneegraten, durch den tiefblauen Himmel peitschen lassen, das Ultramarin mit Zinnober durchsetzt, was dem Licht erst jene für die Atmosphäre eines föhnigen Tages in den Alpen so charakteristisch erregende Intensität verleiht) –, weder Mutters Fotografie, eingefangen mit ihrer simplen Agfa-Box, noch Mezzogiorno sulle alpi, wie der Künstler sein Gemälde mit der Hirtin genannt hat (einst hing in der Kammer über den Betten der Grosseltern in feinem Rähmchen mit Goldleiste noch Ritorno dal bosco, auf dem Nana winters beim Eindämmern einen Hornschlitten Brennholz durch den Schnee zum Dorf schleift), nein, das liebste mir von Grossmutter verbliebene Bild ist das unscheinbarste von allen: es zeigt, wie sie im Schatten des Stalls, müd über den Brunnen, den gehöhlten, verwitterten Lärchenstamm gebückt, mit dem ihr aus der Helle durch den Holzkänel entgegensprudelnden Quellwasser den Durst stillt, nach der Arbeit, auf dem Weg zurück ins Dorf, das rechts im Hintergrund, am Fusse des Bergs, auszumachen ist, weit hinter der Hirtin, die mit den wenigen, zwischen Steinen sich verlierenden Schafen die Tiefe und, betont durch das extreme Breitformat, im Film spräche man von 1:1,75, dem klassischen Western-Format, die schier gellende Leere und Einsamkeit der wüstenartigen Gebirgssteppe erst ermessbar, erfahrbar macht. –

Gewiss, auf dem Bild ist nicht die Kette des Piz Beverin zu sehen, meines Hausbergs, der mir als Bub winters die Sonne stahl, sich mir sechzig Jahre einprägend, und den ich nun, mit der Wintersonne im Gesicht, im Rücken habe. Aber ebensowenig, obzwar über der auf halbe Bildhöhe hochgezogenen sanften Wellenlinie der Weiden, wie die Flanke eines Tiers aus Urzeiten und Gegenklang zum gekrümmten Rücken der Frau, rechts oben die schrundigen Hänge des Piz Toissa auszumachen sind und links hinten, als höchste Erhebung in der Kette der Schneeberge parallel über dem grösstenteils im Schatten liegenden Brunnen, mit dem Stein im Vordergrund gleichsam eine Klammer bildend, der Piz Curvèr (dessen zu stummem Schrei aufgerissenes Maul im Val Schons spiegelverkehrt mir jetzt zweimal im Jahr die Sonne in den Morgen spuckt), ist es die Landschaft um Savognin, nicht genau jedenfalls, und schon gar nicht die heutige – was sich durch Segantinis Arbeitsweise erklären lässt, seinen Pleinairismus: Von daheim, das ihm nie ein Zuhause war, nach Mailand abgehauen und als junger Künstler aus der lärmigen stinkigen Baustelle bald weiter in die Brianza, von dort, mit dem Atelier, das er am Naviglio zurücklässt, allem schwülstig Akademischen den Rücken kehrend, als Staatenloser den Wassern entlang aufwärts und über die Pässe ins Gebirge, erst nach Savognin, lichtsüchtig, getrieben von einer Sehnsucht, die vielleicht Verzweiflung ist, hoch und immer höher, hinauf in eine Welt, die anders spricht, aus dem Bedürfnis, den Kosmos mit allen Sinnen zu spüren, gezwungen, begleitet von seiner Frau, die ihm, der zeitlebens unter seiner mangelnden Bildung litt, während der Arbeit vorliest, bei jeder Witterung draussen vor dem Motiv zu malen, die Leinwand unter einem notdürftigen Schutzdach, besessen wochenlang am selben Bild werkend, alles, was seinen Ansprüchen nicht genügte, wieder von der Leinwand herunterkratzend, das Bild so dreimal, viermal hintereinander malend, stets, bis diese ihren Reiz verloren und er gezwungen war weiterzuziehen, mit denselben Landschaftsausschnitten arbeitend, sie in Symbiose mit der Natur variierend, nach seinen Vorstellungen komponierend – es verwundert nicht, dass Anton Webern von Segantinis Alpentriptychon 1905 sich zu einem Streichquartett hat herausfordern lassen. 

Aber so verlockend es wäre, sich in Erörterungen zu Segantinis Kompositionsprinzipien zu verlieren – welche Töne schwingen nicht mit in diesem unverwechselbaren Akkord von Schatten, Helle und Himmel oder, wie ein Zeitgenosse es ausdrückte, von Schlichtheit, Relief und Sonne, zusammengesetzt in der Breite, um vom Unwägbaren aufs Messbare zu kommen, aus zwei leicht sich überlappenden Quadraten, die Bildmitte markiert von Trogende und Wasserausfluss, für sich genommen jede der beiden Hälften, die linke durch die Trinkstelle halbiert, deren Höhe in Bezug zur Gesamthöhe im Verhältnis 1:1,75 steht, wiederum ein ausgeglichenes Ganzes; gleich ins Auge springend im linken Bildteil, über dem fein gegliederten Berggrat, an dem die letzten Reste von winterlichem Weiss in der Sonne gleissen, in einem milchig bleichen und doch durchsichtig lichten, für die Zeit der Schneeschmelze vor Wetterumstürzen in den Alpen typischen Himmel schwebend, beinahe symmetrisch das Statische der Komposition noch betonend, eine helle Wolke, die, fischförmig hier, in Ansätzen ausgeführt erst, mehr zu ahnen als durchgearbeitet, einem riesigen eigentümlichen Flugkörper ähnelt, und deren Ausläufer in der rechten Bildhälfte, die nichts als flirrende Leere ist, dynamisch die Gewichtung von Licht und Dunkel ausgleichen, die Vorwegnahme gleichsam jenes imposanten, alles überstrahlenden Wolkenflugkörpers, der den rechten Flügel des Alpentriptychons dominiert (im Wunsch, alle Erdenschwere überwindend dem Licht noch näher zu kommen – die Figuration war gegen Ende wohl nur noch dem Zeitgeschmack geschuldet –, hatte Segantini, inspiriert vielleicht von den beim Malen um ihn im Aufwind spiralenden Bergdohlen, Leonardo nacheifernd die unterschiedlichsten Flugkörper entworfen, ja, einige sich in Savognin gar von einem Tischler im Modell nachbauen lassen, nicht weniger utopische als der Wolkenvogel, der auf La Morte plump wie eine Stockente auf der Stirn des Bergs wassert, in den der Künstler als Selbstportrait, in der extremen Untersicht ein Echo auf Mantegnas toten Christus, seine markante bärtige Physiognomie eingegraben hat) – , 

und so reizvoll überdies, auf Segantinis relativ einfache Farb-Palette einzugehen, die er jedoch höchst raffiniert handhabte, indem er seine wenigen Farben, Zink- und Bleiweiss, Jaune de Mars und Kadmiumgelb, Französisch Zinnober, Kobaltblau, Ultramarin und Smaragdgrün, mit möglichst langem, spitzem Pinsel in dünnen pastosen Strichen stets ungemischt auf den Malgrund setzte, denn je reiner die Farben, desto besser führten sie das Gemälde dem Licht, der Luft, der Wirklichkeit entgegen, so Segantini – ihr Mischen auf der Palette tendiere unweigerlich zum Dunkeln –, auf der meist mit einem Impasto aus Terra rossa grundierten Leinwand drauflosarbeitend, diese so selber zu einer Topographie modellierend, zwischen jedem Strich einen Zwischenraum aussparend, um ihn, möglichst bei noch frischer Grundfarbe, damit das Gemalte zerflossener wirke, mit einer Komplementärfarbe auszufüllen und an exponierten Stellen (auf diesem Bild mit der im Schatten des Vordergrunds fast verschwindenden Frau am Brunnen auf der Bergschulter rechts etwa) zur Steigerung der Leuchtkraft, in einer Technik, die er Rubens abgeschaut, wie von unten heraufleuchtendes Glimmerlicht der ferne Nachklang des Strahlgrunds von Cimabues und Duccios Madonnen, zu Glanzpuder zerriebene Silber- und Goldplättchen in die schrundigen Farbfurchen zu streuen): Was ändert all das Wissen an meiner damaligen Gewissheit? Was, wenn ich darüber hinaus noch weiss, dass Baba, das Bauernmädchen aus Savognin, Segantinis Magd und Lieblingsmodell, das ihm auch auf dem Munt da la Bês-cha zur Seite stand, wie mir Lehrer C. erzählte, als er mich, der bereit war, dafür eine Freistunde zu opfern, ins Kunsthaus führte, wo ich dann staunend zum ersten Mal vor Segantinis Originalen stand, in Wahrheit eben nicht unsere Nana war, wie uns Buben schien, wenn wir, am Heinzenberg in der dämmrigen Stube uns die Welt ausmalend, durch die Schuhschachtel fingernd in der Sammlung von Grossmutters Fotografien und Postkarten auf die kleine abgegriffene Farbreproduktion von Segantinis Donna alla fonte stiessen und in der Frau am Brunnen wie auf den Kunstdrucken im Stiegenhaus unsere Nana erkannten, derweil die, seit ihrem schweren Unfall mit einem Viehgespann der Ruhe bedürftig, im knöchellangen Rock – in der Erinnerung gleicht ihr Gesicht, wie es sich uns vom Tisch aus in der Verkürzung präsentierte, Segantinis Selbstportrait in La Morte – auf der Ofenbank ausgestreckt ihr Mittagsschläfchen schnarchte? 

Gibt Kunst je das Sichtbare wieder? Sie mache sichtbar, sagt Klee. Erinnere dich daran, wie es war, als du in den Schlaf gesungen wurdest … – John Berger hat recht: Gemälde sind aus der Vergangenheit empfangene Vorhersagen dessen, was ich als Betrachter in diesem Augenblick sehe. Im Gegensatz zu einem fotografischen hat der Augenblick eines Gemäldes so nie existiert – auch jener von Segantinis halluzinativen Momentaufnahmen nicht, die in mir nachhallen wie – anders zwar – vielleicht nur noch Monets wandfüllende Seerosen, welche mich zu stets neuen Sehreisen aufbrechen lassen. Ein Gemälde schliesst frühere Erfahrung des Sehens ein, meine wie die des Künstlers, nicht nur die Minuten, Stunden, die Tage, die Wochen vor der Staffelei. 

Das gezeichnete Bild erinnert, frei nach Berger, daran, dass jede Erscheinung Gestaltung mit einer Geschichte ist, Protest gegen das Verschwinden. 

In Betrachtung der bis ins Detail durchkomponierten Landschaft der Donna alla fonte (jeder Betrachter ist davor erst einmal sich selbst ausgesetzt, vom andern getrennt wie die rohen, harten Pinselhiebe, mit denen Segantini seine ungemischten Farben präzise auf die Leinwand peitschte, deren Vielzahl, in dichtem Geflecht gleichsam Form webend, als Vorwegnahme des Action Painting seine Komposition zum Schwingen bringt, bis oben auf dem Schafberg auf seinem letzten Bild der alles beherrschende Himmel explodiert) überrascht mich darin, als ein Fremdkörper fast, so unfertig es im Gegensatz zu andern, akribisch ausgearbeiteten Details zwischen Grat und Luft scheint, das ausgewaschene Gesicht der bildparallel ins Profil gestellten Frau, bei dem, wie bei den unfertig fertigen Gesichtern der Trauernden auf La morte, als ob der Maler ein Fenster auf seine Trentiner Kindheit hätte offen lassen wollen, Terra rossa, die Farbe des Malgrunds durchscheint, und ich erkenne darin weniger Grossmutters Gesichtszüge, als dass sich mir, wie durch eine angelehnte Tür, Räume dahinter auftun, meine Geschichten mit Nana, etwa die, wie sie den Buben, der, längst plappernd, nicht auf die Beine kommen wollte, ob dem Stall, während die Eltern auf dem Feld werkten, an einer Stange entlang, ähnlich jenen, an die auf dem Markt und zur Herbstschau das herausgeputzte Vieh gebunden wird, mit unendlicher Geduld das Gehen lehrte.

© 2016 Reto Hänny